Dann verschwand der Nebel wie ein Vorhang, den jemand zur Seite zieht. Vor ihnen im Sonnenlicht lag eine grüne Küste […] Die schrägen Sonnenstrahlen – war das die Sonne, die sie kannte? – tauchten das Land in goldenes Schweigen. Morgaine spürte Tränen in sich aufsteigen. Ohne zu wissen warum, dachte sie: ‚Ich komme nach Hause.‘ [1]
Ich kenne viele Frauen, die das Buch Die Nebel von Avalon gelesen haben und zutiefst in ihrer Seele berührt wurden. Eine Erzählung über die Inselheimat der Priesterinnen der Großen Göttin zur Zeit von König Artus. Avalon ist durch einen Nebelschleier vor den Mönchen von Glastonbury verborgen und kann nur von jenen erreicht werden, die auf medialem Weg den Kahn für die Überfahrt herbeizurufen wissen. Aus psychologischer Sicht betrachtet ist Avalon eine Anderswelt, die nur unter besonderen Bedingungen und nur für bestimmte Menschen sichtbar ist.
Doch … ist Avalon wirklich nur eine Anderswelt?
Oder vielleicht eine spirituelle Bewusstseinsebene, die jede/r in sich trägt?
Oder eine jener alten Kulturen wie Lemurien oder Atlantis, die ebenfalls „untergingen“?
Der Roman von Marion Zimmer Bradley spielt im 6. Jahrhundert in einer Ära großer Umbrüche, in der das Christentum die Oberhand gewinnt und das Reich der Großen Göttin in den Nebeln verschwindet. Dieses Buch berührt vielleicht gerade deshalb viele von uns Frauen, weil wir in Resonanz mit etwas gehen, das uns sehr vertraut ist. Wir spüren, ja, wir wissen geradezu, dass es „wahr“ ist, was hier erzählt wird – so, als würden wir unserer eigenen Geschichte wiederbegegnen.
Tief in uns wissen wir um eine Zeit, in der das weibliche Prinzip vorherrschte, in der die große Göttin verehrt wurde, Sexualität und Fruchtbarkeit als heilig galten und wir eng mit Mutter Erde und der Natur verbunden waren.
Wir wissen um die Zeit der großen Veränderungen, in der die Mönche von Glastonbury die Herrschaft über die Große Göttin und die Priesterinnen vom See übernommen haben. Sie stehen symbolisch für das Patriarchat, das alles Weibliche überrollte und bis heute zu unterdrücken versucht. Für die Zeit, in der die männlichen Werte nicht nur die Religion, sondern ganze Kulturen prägten. Für die Werte des Patriarchats, die im Konflikt mit dem Göttinnenbewusstsein stehen und die Frau außerhalb der männlichen „Normalität“ stellten.
Wo sich Avalon noch heute befindet
Vor kurzem habe ich meiner Facebook-Gruppe die Frage gestellt: Wo genau liegt eurer Meinung nach Avalon? Ist es derselbe Ort wie das heutige Glastonbury?
Es gab viele Rückmeldungen dazu und die Antwort von Claudia W. möchte ich an dieser Stelle mit euch teilen:
Avalon und Glastonbury waren für mich immer ein und derselbe Ort. Ich erinnere mich auch vage daran, gelesen zu haben, dass es Menschen gab, die aus Versehen, irrtümlich, nach Avalon kamen und die Nebel durchdrangen …das waren aber immer Menschen mit einer reinen Seele.
Ich erinnere mich auch daran, dass man die Glocken der christlichen Kirche von Glastonbury an manchen Orten der Insel so nah hören konnte, als würde man direkt neben ihnen stehen. Die Christen kamen erst nach den weisen Frauen nach Avalon – denn Avalon war schon immer da, die Christen kamen erst danach.
Die damaligen Bewohner Englands waren unglaublich spirituell und mit Mutter Erde verbunden. Sie lebten ihre Jahreszeitenrituale und im Einklang mit der Natur, bis die Christen kamen. Die Christen waren von jeher als – ich sag mal – schwierig angesehen, denn sie arbeiteten nicht auf der spirituellen Ebene. Sie gaben den Menschen vor, was sie glauben durften, und nahmen ihnen ihre natürliche Spiritualität. Notfalls mit Gewalt. Um das zu verhindern, wurde Avalon geschützt.
Damit die alten Heiligtümer nicht entweiht werden, hat man Nebel heraufbeschworen, den nur Eingeweihte lichten konnten, oder solche, die nichts Entweihendes im Schilde führten.
Das Boot, das den See überquert, brauchte man als Sinnbild für all diejenigen, die die geistige (Vorstellungs-)Kraft nicht aufbrachten, nach Avalon zu gelangen. Man musste dafür eingeweiht werden, so wie es auch heute Einweihungsrituale gibt, wenn jemand neue geistige Fähigkeiten erlernt. Nicht jeder war dazu berufen.
Das Buch Die Nebel von Avalon wurde so geschrieben, dass sie [die Metaphern] für jedermann verständlich sind …so etwas Abstraktes, wie eine Parallelwelt könnte für den einen oder anderen schwer verständlich sein …Ich persönlich habe Die Nebel von Avalon mit 15 Jahren gelesen. Viele Zusammenhänge –die mit den Christen und dem alten Wissen etc. –habe ich erst viel später erkannt. Ich werde bald 50 und erkenne immer wieder neue Wahrheiten, die damals für mich viel zu abstrakt gewesen wären …
Dem ist meiner Meinung nach nichts mehr hinzuzufügen.
♥♥♥
[1] Marion Zimmer Bradley, Die Nebel von Avalon, Frankfurt am Main 1983